Nicht immer dramatisch, aber oft lebenswichtig

Die freiwilligen Seenotretter auf Juist sind rund um die Uhr bereit zum Einsatz. Und auf der Insel fest verwurzelt. Aber wer sind sie?

Es geht alles ganz schnell, als im August 2006 plötzlich Flammen aus der „Swan“ züngeln. Die Besatzung der Motoryacht, ein deutsches Ehepaar, setzt in buchstäblich letzter Minute ein Notsignal ab und flieht vor dem Feuer und dichtem Rauch auf die kleine Badeplattform am Heck des Schiffes. Als die freiwilligen Seenotretter aus Juist 15 Minuten später vor Ort sind, muss das Paar in höchster Eile von der brennenden Yacht gerettet werden. Zwei Minuten später bersten durch die extreme Hitze schon die Fenster, der Brand zündet durch. „Das war extrem knapp“, erinnert sich Vormann Hauke Janssen-Visser. Ein Defekt am Motor hatte die Katastrophe ausgelöst. Am nächsten Morgen ist von den einstigen Aufbauten der völlig zerstörten „Swan“ nur noch der verkohlte Flaggenstock übrig. Er hängt bis heute im Stationsgebäude der Seenotretter im Juister Hafen. Und erinnert daran, wie lebensnotwendig die Arbeit der Juister Freiwilligen ist.

Nein, es geht nicht immer so dramatisch zu. Der Alltag der Juister Seenotretter besteht aus unspektakulären Krankentransporten, aus Hilfeleistungen und Einsätzen, bei denen nicht immer Leben gerettet werden müssen. Allein im letzten Jahr sind sie über 40 Mal zum Einsatz aus dem Hafen gefahren – Kontrollfahrten nicht mitgerechnet. Wind und Wetter spielen dabei keine Rolle. Und wie wichtig es ist, dass jemand im Ernstfall für Sicherheit auf See einsteht, das weiß Vormann Janssen-Visser sehr gut. Denn die Familie des 28-Jährigen ist seit Jahrzehnten eine Konstante der Juister Seenotretter. Schon der Großvater war Mitglied der „Gesellschaft“, wie die DGzRS an der Küste kurz und prägnant genannt wird. Vater Arend wurde 1985 der erste freiwillige Vormann auf dem ostfriesischen Eiland, als die Station nach 28 Jahren Unterbrechung wieder eingerichtet wurde. Seine Schwester war Taufpatin des früheren Seenotrettungsbootes ILKA, die Mutter wird das neue Boot am 1. April taufen und kümmert sich ehrenamtlich um die berühmten rot-weißen Sammelschiffchen auf der Insel. Auch Arend junior, Haukes älterer Bruder, ist seit seiner Jugend Freiwilliger – und zugleich stellvertretender Ortsbrandmeister. Rettung ist bei Janssen-Vissers eben echte Familientradition. „Mein Bruder war immer mein Vorbild“, erzählt Hauke. „Deshalb wollte ich unbedingt in die Mannschaft aufgenommen werden.“ Weil Gemeinschaft bei den Seenotrettern extrem viel zählt, ist die Aufnahme neuer Freiwilliger grundsätzlich ein Mannschaftsbeschluss. Der Vormann kann seinem Team niemanden aufdrücken. „Man arbeitet ja nicht einfach nebeneinander her“, erklärt Hauke, lehnt sich auf seinem einfachen Schreibtischstuhl weit zurück und verschränkt die Finger beider Hände in seinem Nacken. „Man sitzt stundenlang gemeinsam im Boot – und wenn es draufankommt, muss man sich blind verstehen.“

Bei allen Unterschieden gibt es eine Gemeinsamkeit.

Die Insel in der südlichen Nordsee ist der Lebensmittelpunkt des ehrenamtlichen Vormanns und seiner aus zehn Freiwilligen bestehenden Mannschaft. Auch als langjährige Bewohner erliegen sie dem Charme von Juist immer wieder neu – spätestens dann, wenn die Sonne über dem Watt untergeht. Vom Töwerland, dem Zauberland, spricht deshalb nicht nur das Inselmarketing. 2010 wurde Juist von den Zuschauern des NDR zur schönsten Insel Norddeutschlands gewählt. Im gleichen Jahr konnte das 17 Kilometer lange und maximal 900 Meter breite Eiland die meisten Sonnenstunden Deutschlands vorweisen. Und noch eine Besonderheit gibt es: Nur diese Ostfriesische Insel hat ihren Hafen genau in die Mitte gebaut. So liegt er zwar zentral und Besucher müssen nicht mehr wie früher mit einer Inselbahn transportiert werden wie etwa heute noch auf Langeoog. Aber zugleich ist er auch sehr hoch gelegen und braucht hohen Wasserstand, damit Schiffe ein- und auslaufen können. Im Winter, wenn Ostwind weht, kommt bei Flut auch einmal ein ganzer Meter weniger Wasser. Dabei entscheiden hier ohnehin oft Zentimeter, ob man auf Grund läuft oder nicht.

Die Juister Retter sind nicht allesamt auf der Insel geboren. Einige sind zugezogen, nicht alle haben Kinder, und für den gleichen Fußballverein schwärmen sie schon gar nicht. Aber sie haben etwas Entscheidendes gemeinsam. Sie stehen geradezu exemplarisch für das, was die Seenotretter auf allen 54 Stationen an der deutschen Küste auszeichnet: Gemeinschaft, Sicherheit, Freiheit.

Freiheit etwa ist für den, der täglich die salzige Luft des Meeres einatmet, keine leere Vokabel. Dazu trägt vieles bei: die Abwesenheit von Autolärm, von Hochhäusern und zumindest in der Nebensaison auch von Stress. Und frei sind die Juister Jungs um Vormann Hauke auch darin, ob und wie sie einen Einsatz fahren. Auf die Benachrichtigung per SMS antworten sie, wie schnell sie am Hafen sein können. Sobald mindestens drei von ihnen vor Ort sind, stechen sie in See und agieren eigenverantwortlich, ausgestattet mit einem großen Fundus jahrelanger Erfahrung. Sicherheit ist schließlich kein abstrakter Begriff für jene, die den Gefahren der See oft trotzen und doch wissen, dass es niemals absolute Sicherheit gibt. Umso mehr haben die Freiwilligen von Juist die Sicherheit des Havarierten genauso im Blick wie den Schutz der eigenen Gesundheit. Das ist in den Sommermonaten, wenn die Insel mit 1.600 Bewohnern tageweise bis zu 13.000 Gäste beherbergt, besonders wichtig. Dann ist das Meer voller Wassersportler, die nicht immer wissen, was sie tun. „Klar, mit der Zeit ist schon vieles sicherer geworden“, sagt Hauke Janssen-Visser. „Dazu haben auch die Seenotretter beigetragen, zum Beispiel mit einer Sicherheits-App für Wassersportler.“ Dennoch machen die Aufzeichnungen im Stationstagebuch immer wieder neu deutlich, wie sehr das selbstlose Engagement der Juister Crew und ihrer beinahe 1.000 Gleichgesinnten an Nord- und Ostsee gebraucht wird.

Seenotrettungsboot CREMPE, dass bis zum Eintreffen von SRB 66 als Vertretung auf der Insel lag. Im Hintergrund das Seezeichen, Wahrzeichen von Juist. (Foto: DGzRS / Philipp Spalek)

Die Station Juist ist etwas Besonderes.

Historisch nimmt die Station auf Juist einen besonderen Rang ein: Schon 1861 wurde sie von einem regionalen Vorläuferverein eingerichtet und 1868 dann in die drei Jahre zuvor gegründete Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) übernommen – fast zeitgleich mit der Station Langeoog gegründet, ist sie mit die älteste deutsche Station an der Nordsee. Ein alter Bootsschuppen am Westende der Insel zeugt von dieser Tradition, ein weiterer steht bis heute mitten im Ort. Doch seit der Neugründung der Station 1985 war die Bleibe der Juister Seenotretter bis 2002 ein reichlich schmuckloser grüner Container – nicht schön, aber funktional. Erst vor 15 Jahren wurde das heutige rote Backsteingebäude mit Werkstatt, Mannschaftsraum und Lager in Betrieb genommen. Auch das Seenotrettungsboot wechselte: 1985 war es zunächst die ILKA, ab 1993 dann die neue JUIST, 2006 trat die WOLTERA ihren Dienst an. Und im April 2017 kommt wieder ein neues Boot, mit neuester Technik, perfekt geeignet für das schwierige Navigieren im oftmals flachen Fahrwasser. Wenn Gebäude und Boot auch wechseln – die Gemeinschaft bleibt als wichtigste Konstante. Klar, könnte man sagen: Auf einer solch kleinen Insel muss man schließlich unweigerlich miteinander auskommen. Aber wer einmal erlebt hat, wenn die Crew sich an einem Samstagmorgen zum gemeinsamen Putzen trifft und Vormann Hauke seinen Seenotretter-Kollegen mit „Na, Björnie, mein Engel?“ begrüßt, ahnt: Dahinter verbirgt sich am Ende vielleicht doch mehr als eine flapsige Floskel. Da sind Vertrauen, Verständnis und Kameradschaft im besten Sinne gewachsen. Und das bei einem Haufen Menschen, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Die Juister Seenotretter

Da wäre etwa Habbo Schwips. Der 51-Jährige ist verantwortlich für die Rettungsschwimmer am Juister Strand und ein ruhiger Mensch. Hohle Sprüche sind seine Sache nicht – und so klingt es auch nicht aufgesetzt, wenn er sagt: „Es gibt keinen anderen Ort, an dem ich leben möchte. Das hier ist eben der Sandhaufen, auf dem ich geboren und aufgewachsen bin.“ Für Schwips hat die Insel viel mit Freiheit zu tun: „Ich bin regelmäßig auf dem Festland unterwegs, klar. Aber nach einer Weile bekomme ich in der Großstadt Beklemmung. Dann ist mir das einfach nicht weit genug.“ Der Mann mit dem Pferdeschwanz ist ein Retter reinsten Wassers: Während der Saison ist er hauptberuflich verantwortlich für die Rettungsschwimmer der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft am Juister Strand. Darüber hinaus engagiert er sich bei der Freiwilligen Feuerwehr. Und er ist einer der freiwilligen Seenotretter. Dass er im Nebenberuf auch noch Insel-Bestatter ist, lehrt ihn vor allem eines: „Zwischen Leben und Tod ist es oft nur ein Hauch. Das macht mir den Sinn von Rettung immer wieder deutlich.“

Björn Westermann dagegen hat Bankkaufmann gelernt, inzwischen ist er Gastronom auf der Insel – und leidenschaftlicher Kite-Surfer dazu: „Der Strand hier ist nicht nur wunderschön, man hat ihn auch regelmäßig fast für sich allein. Mehr geht eigentlich nicht.“ Für Westermann („Ich bin waschechter Insulaner. Das ist eine aussterbende Spezies.“) gibt es nur zwei Meinungen zu Juist: „Entweder bist Du mit der Insel verheiratet oder Du kommst nie wieder.“ Seine Gäste jedenfalls buchen bei dem gesprächigen Seenotretter regelmäßig schon für das nächste Jahr.

Auch auf dem Festland geboren ist Seenotretter Tim Köhler. Doch schon als er klein war, wollte er unbedingt nach Juist ziehen. 1999 heiratete er dann eine Insulanerin, gründete mit ihr eine Familie und arbeitet seitdem als Physiotherapeut auf der Insel. „Es ist nicht leicht, hier als Familie ein Haus zu finden, weil alles immer teurer wird“, sagt der 42-Jährige. „Aber es lohnt sich, alles dafür zu tun, hier leben zu dürfen.“ Auch Köhler hat sich einen Zweiterwerb aufgebaut: Er sammelt Treibholz am Strand und macht daraus kleine Kunstwerke, die er über das Internet vertreibt. Im Mannschaftsraum der Seenotretter ist ein Holzstück angebracht, auf dem er kunstvoll die Buchstaben des alten Bootes „Juist“ angereiht hat. So hängt die Insel über ihnen allen, wenn sie zusammen nach getaner Arbeit zusammensitzen und klönen.

Arend, Hauke, Jochen, Harm, Tim, Habbo, Fynn, Immo, Torsten, Björn und Jens: Elf freiwillige Seenotretter, so viele wie eine Fußballmannschaft. Sie alle eint die Begeisterung für eine Insel, die sie ihr Zuhause nennen dürfen, und die Fähigkeit, jedem in Not auf See professionell helfen zu können.

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